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„4er“ ohne Flatterband

  • Autorenbild: twildelau
    twildelau
  • 20. Apr. 2024
  • 5 Min. Lesezeit
Es ist Freitag Nachmittag, meine Arbeitswoche in Hamburg ist zu Ende und ich bin mit der S-Bahn auf dem Weg zum Hamburger Hauptbahnhof, wo laut meiner App „DBStreckenagent“ der nächste Zug Richtung Lübeck Hauptbahnhof pünktlich auf mich wartet.

Close up einer Sprechanlage in einem Nahverkehrszug in Schleswig-Holstein. Auf dem Display der Sprechanlage steht „Außer Betrieb“



14:31 Uhr

Ich erreiche den Bahnsteig am Hamburger Hauptbahnhof, auf dem bereits der RE8 auf dem Weg nach Lübeck Hauptbahnhof bereitsteht. In den vorderen Wagen, die in Richtung Lübeck aus dem Hamburger Hauptbahnhof rausragen, ist noch genug Platz. Ich mache es mir in einem „4er“ (eine Sitzgelegenheit mit je einer Doppelsitzreihe, die sich gegenüberliegen und von einem kleinen Tischchen mit eingebautem Abfalleimer getrennt sind) im oberen Bereich eines Doppelstockwagens bequem. Kurze Zeit später fährt der Zug pünktlich ab.


14:38 Uhr

Es ruckelt kurz bei voller Fahrt. Danach rollt der Zug langsam aus, bis er auf offener Strecke zum Stehen kommt.


14:40 Uhr

Ein DB-Zugbegleiter betritt in seiner dunkelblauen Uniform im stehenden Zug das obere Abteil des Wagens, indem ich sitze. Sein Weg führt an mir vorbei zum 4er direkt vor mir. Ein weiterer Fahrgast sitzt dort ebenso wie ich, allein. Der Zugbegleiter setzt sich zum Fahrgast und bittet ihn nun höflich sich einen anderen Sitzplatz auszusuchen: Dieser Sitzplatz sei gesperrt, es hätte sich ein Steinschlag direkt an diesem Fenster ereignet. Da sich im Zug derzeit aber leider kein „Flatterband“ befinde, müsse er den Platz nun persönlich überwachen, erklärt der Bahnbedienstete dem verblüfften Fahrgast. Dieser schaut den Bahnangestellten mit offenem Mund an, wirkt aber dennoch so, als ob ihn so schnell nichts aus der Fassung bringen könnte und sucht sich dann schmunzelnd einen neuen Sitzplatz schräg gegenüber. Der Zugbegleiter holt sein Handy hervor, wählt eine Nummer und hält sich das Handy ans Ohr, während er seine Hand neben sich auf dem leeren Sitz abstützt, sich zurücklehnt und gleichzeitig die Beine vor sich ausstreckt und das Eine über das Andere schlägt. Er schaut aus dem Fenster und wartet darauf, daß sich jemand in der Leitung meldet.


„Ja, ich bin’s!“ ruft er entspannt ins Handy. „Ja, … machst du … ja! … Machst du ne Durchsage?“ Der DB-Mann mit breitem norddeutschen Akzent hält wieder kurz inne und hört seinem Gegenüber zu, entgegnet dann aber ernüchtert: „Ja, ich komm' doch hier nicht weg! Ich hab vorne und hinten schon geguckt, aber wir haben kein Flatterband mehr! Jetzt sitz‘ ich hier und pass' auf, dass sich hier niemand hinsetzt!“ Es folgt wieder eine Sprechpause. Dieses Mal lacht er immer wieder, während er seinem Gegenüber zuhört. Dann reagiert er: „Das kann doch nicht sein, dass du nicht mal ne Durchsage machen kannst! Was ist denn das für ne Technik??“ Es ist der Triebfahrzeugführer unseres stehenden Zuges am anderen Ende der Leitung, der aufgrund des „Flatterband-Umstands“ nun von seinem Kollegen aufgefordert wird eine Durchsage zu machen, um den Fahrgästen mitzuteilen, dass der Zug steht und warum das so ist.


14:42 Uhr

Eine viel zu laute Melodie ertönt durch die Sprechanlage. Alle fahren vor Schreck hoch. Sie war wirklich sehr laut und extrem verzerrt! Einige seufzen genervt, andere schimpfen murmelnd in sich hinein. Die Durchsage, die danach kommt, ist viel zu leise und nuschelig. Zudem entsteht auf zunächst unerklärliche Weise eine Rückkopplung, die sich unangenehm pfeifend über die Boxen der Sprechanlage aufbaut und sich immer lauter werdend durch den ganzen Zug zieht. Man hält sich buchstäblich die Ohren zu. Niemand versteht etwas, weil die viel zu leise und nuschelig gesprochene Stimme absolut keine Chance hat, gegen das laute Pfeifen anzukommen. Das Einzige, was vernehmbar ist, ist so etwas wie „Technische Störung“. Das Pfeifen hört nach einigen Sekunden abrupt auf. Offensichtlich ist der Triebfahrzeugführer fertig mit seiner Durchsage.


14:43 Uhr

„Wenn du gleich wieder ne Durchsage machst, musst du ganz nah rangehen und dein Handy ausmachen.“ belehrt der Kollege, der vor mir den „Steinschlag-4er“ besetzt seinen Steuermann. „Ich sach' WENN DU GLEICH WIEDER EINE DURCHSAGE MACHST, MUSST DU LAUTER SPRECHEN! Und vergiss nicht das Handy dabei auszumachen, ja? … Ok. Ich warte jetzt auf Rückmeldung vom TP (Transportleitung) und dann meld' ich mich nochmal!“


14:46 Uhr

Der Strom geht plötzlich aus. Die Info-Anzeige auf den Monitoren zeigt schwarz, die Beleuchtung erlischt und die Klimaanlage fährt herunter. Es klickt ein paar mal und dann ist es still im Zug.


14:48 Uhr

Einige Fahrgäste fangen an zu telefonieren. Stimmen mischen sich im ruhigen Abteil. Man hört vereinzelt Spott durch die Sitzreihen. Sie berichten über die technische Störung und dass man hier im nirgendwo steht und wie so oft mal wieder warten muss.


14:49 Uhr

Der DB-Mann vor mir spricht wieder in sein Handy: „Jo, TP sagt einmal neu! … Ja, … ja, … Machst du dann eine Durchsage, wenn wieder Saft ist? … Alles klar!“


14:51 Uhr

Die Klimaanlage springt wieder an.


14:52 Uhr

Das Licht geht wieder an.


14:53 Uhr

Die 2. Durchsage wird wieder durch die ohrenbeteubenden Töne eingeleitet. Neben mir, im 4er auf der anderen Seite des Ganges, sitzt ein weiterer DB-Angesteller, wie ich an seiner blauen Weste mit DB-Anstecknadel erkenne. Er reißt die Hände hoch an seine Ohren und stößt dabei ein etwas lauteres „Meine Herren … !“ aus. Wir schauen uns an und bemerken in unserem jeweiligen Gesichtsausdruck den Schrecken, den wir gerade spüren.


Wie ich später auf der Weiterfahrt in einem netten Gespräch mit ihm noch erfahre, ist er bei der DB-Cargo als Triebfahrzeugführer angestellt und nun auf dem Weg in Richtung Dänemark, um dort einen Job zu übernehmen. „Im Cargo-Betrieb geht es zum Teil noch viel schlimmer zu“, sagt er. „Da warten wir manchmal Stunden, bis es weitergeht. Das liegt nicht zuletzt an den vielen Baustellen auf den Gütertransportstrecken!“, erklärt er mir.


Eine Rückkopplung gibt es bei dieser Durchsage nicht. Allerdings spricht der Triebfahrzeugführer nicht gerade laut und deutlich. Vielmehr nuschelt er seinen kurzen Text herunter. Hierbei merkt man zudem, daß die Sprechanlage wohl auch nicht einwandfrei funktioniert. Man hört starkes Knistern und Rauschen während des Sprechens und somit ist die Message für alle Beteiligten auch nicht klar zu definieren. Was man allerdings mitbekommt: Es geht wohl in Kürze weiter …


14:58 Uhr

Der Zug fährt langsam an, bremst jedoch nach ein paar Metern wieder ab und kommt erneut zum Stehen.


15:00 Uhr

Wieder eine Durchsage. Diesmal gibt es keine Melodie, keine Rückkopplung, aber es wird genuschelt!


15:02 Uhr

Wir fahren los und für den Rest der Strecke nach Lübeck verläuft alles reibungslos. Ich unterhalte mich zeitweise mit dem DB-Cargo-Angestellten, der mir unter Anderem erzählt, daß er es sehr gut verstehen kann, daß gerade Pendler oftmals die Nase voll haben von diesen ganzen Eskapaden mit der Bahn-Situation in Deutschland. „Man hat sich ja Jahrzehnte lang nicht genug um das Streckennetz gekümmert“, sagt er. Er selbst gehöre ja zum „alten Eisen“, erzählt er mir. Er vermisst Leute vom alten Schlag, die sich noch mit der ganzen Technik auskennen und unkomplizierte lösungsorientierte Typen sind. „Die gibts alle nicht mehr … Es wird ja auch nicht mehr attraktiver für die Jüngeren! Da fließt ja auch kein Geld vom Bund! Und die Regierung trifft ja auch keine Entscheidungen!“


Er müsse nur noch 4 Jahre machen, dann geht er in den Ruhestand. Den will er genießen. Sympathischer Typ, denke ich. Wir verabschieden uns freundlich. „Vielleicht sieht man sich mal wieder im Zug“, sagt er.


15:42 Uhr

In Lübeck angekommen, sehe ich in der DBStreckenagent-App, daß meine weiterführende Bahn von erixx Holstein, mit der ich jetzt eigentlich direkten Anschluß hätte, ausfällt! Der Grund dafür ist ein kurzfristiger Personalausfall. Ich sehe, daß die Busverbindungen auch nicht günstiger sind. Somit bleibt mir nichts anderes übrig, als auf den nächsten „erixx“ zu warten …



3 Comments

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Guest
Apr 20, 2024
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😱

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Guest
Apr 20, 2024
Rated 5 out of 5 stars.

Großartig! Eine Tragikomödie… Danke!

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twildelau
twildelau
Apr 20, 2024
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Danke! Ja, in der Tat … Freut mich, dass es gefällt!

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